

Musikalische Interpretation und Interpretationsgeschichte
pp. 184-200
in: Michele Calella, Nikolaus Urbánek (eds), Historische Musikwissenschaft, Stuttgart, Metzler, 2013Abstract
Der privilegierte Gegenstand der Musikwissenschaft ist die Musik. »Aller bestehenden Musik« aber ist, mit einem pointiert formulierten und wohl auch ganz unbestreitbaren Diktum Theodor W. Adornos, »das Interpretiertwerden wesentlich«.1 (In der Tat ist das praktische InterpretiertWerden-Müssen — die Eigenschaft, nur als klingendes Phänomen wirklich real existent zu sein — ein grundlegendes und unverzichtbares Definitionskriterium aller Musik.) Folglich müsste der Gegenstand der Musikwissenschaft in erster Linie die interpretierte Musik, die praktische Interpretation von Musik oder die Beschäftigung mit Musik als einem in Aufführungen erklingenden Phänomen sein. Wir alle aber wissen, dass dieser einfache Syllogismus so nicht funktioniert. Der aus der philosophischen Logik bekannte Dreischritt nach dem Muster »Sokrates ist ein Mensch. Alle Menschen sind sterblich. Folglich ist Sokrates sterblich.« will sich aus der Konstellation von Musik, Interpretation und Wissenschaft nicht mit derselben Zwanglosigkeit ergeben. Die Wissenschaftsgeschichte unseres Fachs lehrt anderes: In den ersten 100 Jahren akademischer Musikwissenschaft von Hugo Riemann bis Carl Dahlhaus, von Guido Adler bis Ludwig Finscher war Musikwissenschaft vornehmlich eine philologische Wissenschaft der Texte, Musikgeschichte eine narrative Verkettung komponierter Werke und Musikanalyse eine akribische Deutung von Formen und Strukturen.